Tag 14 - Technik, Verfolgung früher und heute, kleinste Sprachinsel Europas, Gastfreundschaft

FR, 14. Juli 2017 – Technik, Verfolgung früher und heute, kleinste Sprachinsel Europas, Gastfreundschaft

Papenburg – Saterland/ Seelterlound

 

Heute kommen so ziemlich alle wichtigen Punkte zusammen, die sich auf einer Reise zutragen. Deswegen auch der enorm lange Bericht:

 

Transrapid

Eine weitere Nacht, die nicht optimal war. Denn ich habe für die Isomatte zum Einschlafen keine ebene Fläche gefunden, bin deshalb in der Nacht aufgewacht, weil ich etwa die Hälfte hinuntergerutscht war. Wenigstens habe ich alles so dicht wie möglich abgepackt und sogar meine Schuhe in eine Plastiktüte eingepackt. Feucht und verdreckt war außer der Isomatte also nichts, dafür hatte eine Schnecke den Weg in meine Lenkertasche gefunden, um sich an einer Banane zu vergnügen.

Weiter geht es zur Versuchsanlage des Transrapid im Emsland zwischen Dörpen und Lathen. Da ich nicht genau weiß, wo ich mir diese anschauen soll, erkundige ich mich an einer Tankstelle. Die beiden Damen (ca. 50) helfen mir weiter und sagen, dass ich lange Teile der Strecke direkt nebenan fahren kann. Der ehemalige Zugang befindet sich an der Südschleife. Auf dem teilweise mit Hanfplantagen gesäumten Weg merke ich, dass ich gestern Abend nach dem Baden einen enormen Fehler gemacht habe und doch noch hätte weiterfahren sollen. Denn unter der Strecke bzw. den Pfeilern kann man gut schlafen, teils ist der Beton unter der 2011 stillgelegten Strecke sogar mit Moos bedeckt. Bei leichtem Regen scheint man es dort auch aushalten zu können. Und an einer Stelle gibt es sogar direkten Zugang zu einem kleinen See. Echt schade, denn ich bezweifle sehr, dass ich jemals wieder die Möglichkeit habe, unter einer Transrapidstrecke zu schlafen. Wann die Strecke zurückgebaut wird ist allerdings noch nicht klar.

 

 

 

Erinnerungs- und Gedenkstätten

Bei der Erinnerungsstätte Wahn in der Gemeinde Lathen handelt es sich um einen ehemaligen Teil des Ortes geht, der zwischen 1939 und 1942 abgebrochen wurde. Ab hier führen der großflächige militärische Bereich und Schiessplätze dazu, dass ich keine Abkürzungen fahren kann. Der weitere Weg führt mich nach Esterwegen. Vor einer Woche hat es hier offensichtlich heftig gestürmt, überall sind Äste abgebrochen und Bäume entwurzelt.

Die Gedenkstätte Esterwegen ist auf meiner Karte verzeichnet. Ich weiß aber noch nicht, um was für eine Art von Gedenkstätte es sich handelt und erfahre Folgendes: Es gab während der Nazizeit 15 Lager im Emsland. In allen mussten anfangs hauptsächlich politische Gefangene (insg. 80.000, u.a. der Friedensnobelpreisträger von 1935, Carl von Ossietzky), später auch Kriegsgefangene (100.000) in der Torf- und Rüstungsindustrie („Moorsoldaten“) arbeiten. Esterwegen steht erst seit 2011 und dabei symbolisch für alle anderen KZ der Region. Es gab, man mag es heutzutage kaum glauben, starken Protest dagegen, da man bzw. die Vorfahren damit angeblich ja nichts zu tun hatten bzw. es nicht wissen will. Angeblich leben immer noch zwei uralte ehemalige Wächter im Ort. Bisher habe ich auf den meisten Touren ungeplant KZ gesehen und wenn nicht, dann habe ich wohl nicht genau hingesehen: 2007 bei der Tour nach Jerusalem war es Mauthausen, 2013 bin ich an Buchenwald vorbeigekommen. Auch sonst trifft man immer wieder auf zahlreiche Stätten, Symbole und Friedhöfe, die an diese Zeit erinnern.

Als ich gerade wieder losfahren will, regnet es und es ist kalt. Ich entscheide mich, erst mal in der Gedenkstätte zu bleiben, was mir auch erlaubt wird. Danach gehe ich zum Kloster der Franziskanerinnen. Ich habe wohl nicht ganz verstanden, um was es sich hierbei handelt und erwarte eine alte Einrichtung. Dabei ist es eine Einrichtung in einem ehemaligen Bundeswehrhaus, das nach dem Krieg eingerichtet wurde. Es ist Teil der Gedenkstätte und bietet den Gästen die Möglichkeit zur Ruhe und Gespräch. Sr. Birgitta spricht mich gleich an und fragt, ob ich der Fahrradfahrer sei, dessen Rad vor der Einrichtung stand. Sie ist erfreut und wir haben ein langes Gespräch über die Geschichte des Klosters, des KZ und der Einrichtung der Gedenkstätte sowie den Umgang mit Geschichte und Gegenwart. Uns beiden ist klar, dass das in diesem Zusammenhang häufig geäußerte „nie wieder“ zwar gut gemeint ist, aber völlig der Realität widerspricht. Einzige Möglichkeit ist, den Mund aufzumachen und sich dagegen zu stellen, auch wenn man alleine ist. Dass man dazu Mut braucht und der nicht immer da ist, ist uns beiden bewusst. Da es wieder anfängt zu regnen bietet sie mir an, mich hinzulegen, bevor ich mich vielleicht für eine Weiterfahrt entscheide – sonst könnte ich auch hier schlafen. Nach einem kurzen entspannenden Schlaf wache ich auf und werde zum Abendessen eingeladen mit ihr und Sr. Agnelda. Eigentlich bin ich schon vor Stunden davon ausgegangen, die Nacht hier oder in der Nähe zu verbringen, aber es regnet nicht mehr und wird sogar ein bisschen heller. Sicherheitshalber gibt mir Sr. Birgitta bei der Abfahrt die Anschrift eines Kollegen und ich komme nach langer Zeit wieder auf die Idee, in einem Pfarrhaus nach einer Übernachtung zu fragen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Kleinste Sprachinsel Europas und heutige Verfolgung

Danach geht die Tour weiter. Und zwar ins Saterland. Dieses Gebiet habe ich erst seit zwei Tagen auf dem Plan, zuvor wusste ich nichts davon. Zufällig habe ich erfahren, dass hier in 4 Dörfern die kleinste Minderheitensprache Deutschlands gesprochen wird, nämlich Saterfriesisch. Auf dieser kleinsten Sprachinsel Europas  wird von etwa 2.000 Menschen die letzte ostfriesische Sprache gesprochen – nicht verwechseln mit dem ostfriesischen Platt! Grund dafür ist die lange Isolation, die 15 auf 4 km breite Sandinsel war bis ins 19. Jh. nur mit dem Schiff erreichbar. So erkundige ich mich in Scharrel/ Skäddel bei einer Gruppe von kurdischstämmigen Jugendlichen danach, ob sie Saterfriesisch sprechen. Für eine persönliche Liste brauche ich nämlich Übersetzungen. Sie meinen, sie hätten es in der Grundschule gesprochen, können es aber nicht mehr. Eine von ihnen meint, ein ihrer Freundinnen könne es sehr gut, diese sei aber gerade in den Ferien. Mit einem komme ich über die Politik der Türkei zu unterhalten. Dass man nicht nur die guten Seiten einer Politik bzw. eines Politikers (Schaffung von Arbeitsplätzen, Bau und Zugang zu Schulen und Spitälern) sehen soll, sondern auch die schlechten (Abbau von Demokratie, Einschränkung der freien Meinungsäußerung, willkürliche Verhaftungen) sieht er nicht so ganz ein. Ein Vergleich zur deutschen Geschichte bringt ihn auch nicht gerade zum Nachdenken. Ich komme in dem Moment nicht darauf, dass ich gerade von einem Ort komme, wo ab 1933 genau das geschehen ist, was seit mindestens einem Jahr in der Türkei passiert. Bei aller guter Erfahrung bei meiner Tour nach Jerusalem in 2007 in der Türkei rate ich seit meinen Erfahrungen in 2015 stark davon ab, in das Land zu reisen. Am besten wäre es, die Regierung spräche Reisewarnungen aus.

Also mache ich mich weiter auf die Suche und habe enorm Glück: In einem Griechischen Restaurant frage ich die Bedienung, ob sie mir weiterhelfen könne. Sie verneint, aber eine Kollegin fragt ein hinter mir sitzendes Paar, welches direkt bei der bekannten Heline Stolle anruft. Sofort kann ich zu ihr fahren und mich mit ihr unterhalten. Was für eine Chance! Die für heute geplanten Kilometer bis Bremerhaven bekomme ich so auf keinen Fall mehr hin aber das stört mich überhaupt nicht. Viel lieber komme ich in den Genuss eines solchen Kontaktes. Sie kann mir meine Fragen beantworten und ich habe noch ein längeres Gespräch mit ihr und ihren Nachbarn. Dabei bekomme ich noch mit, hier spreche man neben den Dialekten vor allem das reinste Hochdeutsch, und nicht, wie man sagt, in Hannover. Ebenso seien hier die am höchsten begehbaren Gebäude.

 

 

 

 

 

Suche nach einer Unterkunft und neue Kontakte

Danach fahre ich weiter ins nächste Dorf Ramsloh und will versuchen, beim Pfarrer  unterzukommen, dieser ist aber nicht zuhause. Mein Versuch, ihn vielleicht in Restaurants und Bars anzutreffen ist ebenso erfolglos, dafür komme ich ins Gespräch mit vielen Leuten. Dass ich meine Tour in Basel gestartet habe ist für manche amüsant, denn ein nahe gelegener Ort heißt „Barßel“. Von den Gäste sprechen manche hochdeutsch, manche platt, manche saterfriesisch, wieder andere englisch, russisch oder polnisch. Von meiner Radtour bekommt auch Berni (59) etwas mit und dass ich auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit bin. Er ruft zu mir rüber, dass ich bei ihm übernachten könne und er mich mitnehmen würde, wenn er mit seinen Kollegen fertiggeredet hat, kein Problem. Das ist echt super, weil ich den Pfarrer aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit nicht mehr kontaktieren und vielleicht aus dem Schlaf reißen möchte und mich inzwischen schon nach einem Sportplatz mit Überdachung erkundigt habe. Berni arbeitet in Bremen bei Mercedes. Mit seinen Kindern hat er konsequent saterfriesisch gesprochen, was mich beeindruckt.

Bei den Gesprächen bekomme ich übrigens mit wie ein junger Russe manchen negativen Klischees entspricht: gegen Flüchtlinge sein, „die alles bekommen ohne etwas zu tun“ und natürlich gegen Homosexuelle. Etwas mehr beklemmen mich da die Gespräche mit Landwirten, die sicher nicht wie ich wochenlang frei haben. Denn sie müssen erst mal einen finden, der ihre Arbeit für sie erledigt und zwar gut. Bei solchen Gesprächen muss ich auch klar machen, dass ich mir meine jetzige Situation, über die ich mich sicher nicht beschweren will, so nicht geplant habe: nach dem Diplom der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik 2008 fand ich in Deutschland keine Arbeit, im mit Sozialpädagogen überfüllten Freiburg erst recht nicht. Durch ein Angebot des Arbeitsamtes kam ich nach England, wo ich knapp zwei Jahre gewohnt und gearbeitet habe. Zurück in Deutschland, hieß es weiterhin, dass ich als junger Mann super Chancen hätte – allein schon weil die meisten in dem Beruf doch Frauen seien. Außerdem hätte ich Auslandserfahrung in Spanien, der Schweiz und Großbritannien. Tatsächlich hat das nicht funktioniert, obwohl ich mich in fast allen Bundesländern in verschiedenen Bereichen beworben habe. Letztendlich fand ich eine Arbeitsstelle bei Basel. Und dass ich heute mit Kindern in der Primarschule arbeite, und zwar sehr gerne, habe ich auch nie geplant. Und ja, man verdient in der Schweiz mehr. Allerdings arbeite ich Teilzeit, kann aber immerhin meine kleine Altbauwohnung bezahlen und mir meinen kostengünstigen Urlaub erlauben. Mehr will ich auch gar nicht, jedenfalls im Moment nicht.

Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 22 Jul 2017 20:38:20