Tag 085 - Unpassierbarer Grenzübergang Nr. 3 (Türkei – Aserbaidschan)/ Diebstahl Nr. 3/ Flucht vor aggressiven Kids Nr. 5-6
SA, 20.06.2015 – Unpassierbarer Grenzübergang Nr. 3 (Türkei – Aserbaidschan)/ Diebstahl Nr. 3/ Flucht vor aggressiven Kids Nr. 5-6
Iğdır – Iğdır
Diebstahl Nr. 3: Tacho
Gestern Abend habe ich bemerkt, dass ich meinen Tacho nicht zur Hand habe, war aber zu unmotiviert, ihn zu suchen. Heute früh ist er allerdings weder an meinem Rad noch in irgendeiner Tasche zu finden. Es bleibt also nur die Möglichkeit, dass ich ihn bei der Mitnahme im Bus „verloren“ habe oder hier im Hotel. Ich tippe eher auf die erste Variante.
Fahrt am Ararat entlang
Ich weiß, dass ich heute wieder eine lange Fahrt vor mir habe und dabei noch nie so Angst vor einer Strecke gehabt. Allein schon die Vorstellung, jetzt zur Bank zu gehen, dabei beobachtet und verfolgt zu werden. Schließlich muss ich ja noch etwas abheben für den Iran – dort haben die Automaten keine westlichen Systeme, es reisen also alle Touristen mit einem Haufen Bargeld ein. Und natürlich die aggressiven Kids. Ich versuche also, den Bus bis zur Grenze zu nehmen. Auf der Suche nach dem entsprechenden Busbahnhof helfen mit zwei junge Männer unabhängig voneinander (jeweils ca. 30) weiter. Einer kann sogar recht gut Deutsch, da er mal in Frankfurt gewohnt hat. Am Busbahnhof will mich aber keiner mitnehmen bis zur Grenze. So probiere ich es alleine. Die Fahrt wird überraschenderweise angenehm im Gegensatz zur gestrigen Erfahrung. Keine Kinder oder Jugendliche, die mich um Geld anbetteln, verfolgen oder mit Gegenständen bewerfen. Dafür für sehr lange Zeit den Ararat entlangfahren. Ein junger Mann (ca. 18), an dessen Wasserhahn ich mich bedienen darf, schenkt mir sogar eine Flasche kalte Limonade.
Diesen Weg habe ich übrigens schon vor dem Tourenstart ausgesucht, weil er einfach interessant aussieht: seit Iğdır fahre ich entlang der Grenze zu Armenien, die sich im Norden befindet. Auf den letzten etwa 20 Kilometern ist auf der südlichen Seite die Grenze zum Iran. Auf diesem maximal 5 Kilometer breiten Streifen kommt kurz vor dem Zipfel der Grenzübergang zu Aserbaidschan/ Nachitschewan. Also beinahe ein Vierländereck. Bis etwa 30 Kilometer vor der Grenze ist die Fahrt einfach, danach habe ich Gegenwind. Und das, obwohl sich weder die Fahrtrichtung noch sonst was ändert. Aber egal, Hauptsache, ich komme raus aus der Türkei.
Was hier auffällt, ist die hohe Anzahl an recht neuen, aber leerstehenden Häusern. Ich kann nur vermuten. Vielleicht sind es einfach Fehlplanungen oder die Leute sind aus dieser Grenzregion einfach fortgezogen. Oder man hat hier Unterkünfte für Soldatenfamilien erbaut. Oder für Menschen, die hier neu angesiedelt werden sollen.
Grenze nach Aserbaidschan/ Nachitschewan
In meinem Visum steht „valid until 20.06.2015“. Ich interpretiere das so, dass ich bis heute, dem 20.06., einreisen darf. Allerdings bedeutet das laut den Grenzbeamten, dass ich spätestens gestern hätte einreisen dürfen. Gut eine Stunde bin ich an der Grenzstation und hoffe, dass die Beamten durch ihr langes Telefonieren doch noch einen Einlass für mich erreichen. Das tun sie auch – dabei muss ich mehrfach in die Kamera schauen, damit sie mich mit meinem Passbild vergleichen können. Allerdings müsste ich bis Mitternacht das Land wieder verlassen. Das bedeutet, ich müsste in dieser Zeit die Strecke bis Culva hinter mich bringen und ein Visum für den Iran erhalten. Das wäre nur möglich, wenn mich ein Bus die 120 Kilometer bis dorthin bringen würde, und es mit dem Visum problemlos laufen würde. Andernfalls müsste ich eine Strafgebühr von 400€ bezahlen. Ich halte die Wahrscheinlichkeit, dies zu schaffen, für sehr gering und entscheide mich, wieder in die Türkei zurückzukehren. Ich fühle mich wie zu einer Höchststrafe verurteilt. Vor allem bewahrheitet sich mein Eindruck, dass Aserbaidschan es einem schwer macht, es zu betreten. Dabei wollte ich nur durchfahren, in der Hauptstadt der Exklave zwei, vielleicht drei Tage Pause machen und Berichte schreiben. Was denn auch sonst? Viel zu sehen gibt es in diesem Teil des Landes nicht.
Das ganze Theater um das aserbaidschanische Visum hat sich also nicht gelohnt. Weder die Anrufe bei der unkommunikativen Botschaft in der Schweiz („Es steht alles auf der Internetseite. Tschüs.“) noch das mehrtägige Warten in Graz auf das Visum der (hilfsbereiten) Botschaft in Deutschland. Die Fahrt in dieses von aggressiven Kindern und Jugendlichen geprägte Gebiet, die mich mit Steinen und Stöcken bewerfen als auch den Verlust von meinem Tacho hätte ich mir ebenfalls sparen können. Wenigstens kann ich behaupten, den Ararat größtenteils umfahren zu haben.
Rückkehr nach Iğdır/ Flucht vor aggressiven Kids Nr. 5-6
Auf dem Rückweg zwischen den Grenzstationen spreche ich den ersten Busfahrer an, der mich auch mitnimmt. Bei der aserbaidschanischen Grenzstation dauert es aber sehr lange, bis die meinen Pass kontrolliert, ihn mehrfach kopiert und mit andern Kollegen gesprochen haben. Bei der Rückkehr nach Iğdır merke ich gleich, dass sich mein Eindruck bewahrheitet hat. Auf einem Bus sind etwa vier Männer, die machohafte englische Ausdrücke von sich geben. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie mir oder der jungen Frau in meiner Nähe oder uns beiden gelten. Bei der Weiterfahrt ins Zentrum kommt von zwei jungen Männern „Hello, fuck you/ piss off“.
Dass ich zurück muss in die Türkei, in der ich schon viel länger aufgehalten habe als geplant, ist schlimm genug. Aber zurück nach Iğdır und morgen nach Doğubeyazıt? Das ist die größte Strafe dieser Tour. Wenn etwas am Rad kaputt ist oder das Wetter nicht mitspielt, ist das im Vergleich dazu halb so wild. Das kann man wiederherstellen oder abwarten. Aber die Gegend hier wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wohl nicht ändern.
Ich entscheide mich für ein anderes Hotel und frage nach der entsprechenden Busstation Richtung Doğubeyazıt. Sie machen mir klar, dass man dort auch gut mit dem Rad hinfahren kann. Ich winke gleich ab und sage nach einem kurzen Blick ins Wörterbuch, dass das wegen den Kindern zu gefährlich sei. Sie wissen nicht, was ich meine oder wollen es nicht verstehen. Um Mitternacht würde ich gerne noch was essen, was auch gut möglich wäre, Restaurants sind noch offen. Aber ich traue mich einfach nicht mehr raus, den möglichen Ärger mit Kids will ich mir sparen.
Rückblick Türkei
Während der Zeit zwischen Hasankeyf und Doğubeyazıt hatte ich den Eindruck, ich könnte die Türkei trotz aller Fehlschläge dennoch mit einem guten Eindruck verlassen. Das hat sich jetzt zerschlagen. Zwar habe ich jeden Tag freundliche, hilfsbereite Menschen erlebt, die mir weitergeholfen haben. Aber die vielen schlechten und vor allem wetterunabhängigen Erlebnisse haben diese Reise ziemlich negativ geprägt. Und von all der Gastfreundschaft, Gelassenheit und vielseitigen Sprachkenntnissen von 2007 habe ich jetzt fast nichts erfahren. Ich möchte noch mal betonen, dass ich jetzt zum dritten Mal in diesem Land bin und mich bisher so sicher und wohl wie daheim gefühlt habe. Das sieht bei dieser Tour anders aus. Ich glaube, ich hatte damals sehr viel Glück und jetzt sehr viel Pech. Zum Glück waren da sehr oft die wunderschöne Landschaft wie auch kulturelle und historische Sehenswürdigkeiten als "Entschädigung".