Tag 071 - Kein Vorwärtskommen wegen Gegenwind

SA, 06.06.2015 – Kein Vorwärtskommen wegen Gegenwind

Afşin – Nurhak

 

Weitere negative Eindrücke von Afşin 

Wieder gibt es ein ausgiebiges Frühstück in dem großen Hotel, wobei während der knappen Stunde neben mir nur zwei weiter Gäste da sind. Wieder auf der Straße, merke ich, dass sich Autofahrer etwa im gleichen Tempo wie Radfahrer oder Fußgänger bewegen, dass sie anhalten und fahren, wie und wo es ihnen gerade passt. Daraus ziehe ich auch meinen Nutzen und fahre auf der falschen Seite, fällt ja sowieso niemandem auf und ist oft praktischer für mich. Man sollte sich aber noch viel mehr als gewohnt bei jeder Bewegung umschauen. Parklücken sind extrem schnell gefüllt, wobei die Autos oder Sonstiges wie gesagt aus wirklich jeder Richtung kommen können. Neu ist diese Erfahrung nicht für mich, heute kommt es aber häufig vor: Autos überholen mich, um dann keine 5 Meter später rechts einzubiegen. Das ist sehr unangenehm, mir ist das aber auch schon mit der Basler Polizei passiert, die es eigentlich gar nicht eilig hatte.

Als ich die Stadt verlasse, ist die Straße klatschnass. Nicht, weil es geregnet hat. Sondern, weil man dadurch – so meine Einschätzung – den Staub und Dreck an den Boden binden will. Ja, es staubt jetzt nicht mehr, dafür bekomme ich die ganzen Dreckspritzer ab und meine ganze Ausrüstung ist so verdreckt wie schon lange nicht mehr. Viel verdreckter als durch die ganzen Staubwolken von gestern oder durch Regen. Nicht, dass ich da empfindlich bin, aber so einen Blödsinn habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Es ist schon erstaunlich, wie Wind und Bodenerosion in der Türkei so gut wie alle Straßenegal ob Land, Dorf oder Stadt, mit Steinen und Sand bedecken. Und durch das Einnässen ist nur die oberste Staubschicht, nicht aber die zentimeterdicken Kruste von der Straße entfernt. Falls also mal jemand in die Gegend kommen sollte: Afşin ist sicher kein Muss!

 

 

Grüßen und zuwinken während der Fahrt?

Da ich gestern so viel Schönes gesehen habe, will ich heute einfach nur vorwärts kommen. Von meiner Erfahrung an der Tankstelle und der Stadt Afşin selbst genervt, habe ich heute lange Zeit keine Lust, Leute zu grüßen. Während der Fahrt gibt es nur zwei sehr angenehme Erfahrungen: eine junge Frau (ca. 20), die mit ihrer Mutter unterwegs ist, lächelt mich begeistert an. Erwidern kann ich das aber leider nicht – als ich ihr Lächeln erkenne, bin ich schon an ihr vorbeigerast. Dafür winke ich einer Frau (ca. 45) zu, die mit dem Victoryzeichen zurückgrüßt. Ob sie dessen Bedeutung kennt? Muss sie auch nicht, inzwischen benutzen es Kinder, bevor sie lernen, die Hand zu schütteln. Ihre Tochter (ca. 20) schaut währenddessen übrigens weg. Falls es jemanden interessiert: alle Frauen hatten ein Kopftuch. Generell schauen Frauen zwischen 15 und 50 so gut wie immer weg, wenn sie einen kurz erblickt haben. Allerdings ist es oft so, dass sie ihren Kolleginnen gleich erzählen, dass da ein halbnackter Radler unterwegs ist. Und wenn man an ihnen vorbeigefahren ist, drehen sie sich – manchmal – nach einem um. Hab ich selbst mehrmals so beobachtet und dann freundlich gewinkt. Kleine Kinder grüßen einen durch ihre Natürlichkeit fast immer freundlich und nett. Und Frauen ab 50 haben oft wieder eine gewisse Gelassenheit, Männer wie mich anzuschauen und sogar zuzuwinken. Sonst grüßen fast nur Männer, davon aber sehr viele. Sie hupen einen an oder schreien etwas durch die Gegend. Langsam wird mir klar, dass es schrecklich sein muss, wenn man berühmt ist und von allen angeglotzt und angesprochen wird.

 

Gestresst von der Fahrt

Nach gut einer Stunde erreiche ich bei guter Geschwindigkeit Elbistan, um von dort in den Süden zu fahren. Dann kommt der Seitenwind. Er ist nicht mehr ganz so kalt wie die letzten Tage, dafür heftiger. Die Strecke ist fast eben, aber der Wind drückt mich ziemlich in den Sattel. Ich probiere kurz, ein paar Meter zurückzufahren und komme dabei auf die Geschwindigkeit von 12 km/h, ohne auch nur in die Pedale zu treten. Kurz vor Nurhak halte ich an, um meine Wasserflasche wieder aufzufüllen. Ich entschließe mich kurzfristig, in der Stadt eine Unterkunft zu suchen. Es wäre, gerade aufgrund der letzten Stunden, beinahe unmöglich, die Stadt Gölbaşı noch zu erreichen, wie ich es mir für heute vorgenommen habe. Der Gegenwind hat mein von der Distanz her leicht zu realisierendes Ziel unerreichbar gemacht und ich habe einfach keine Lust mehr, gegen das Wetter kämpfen zu müssen. Da taucht auch schon Imam (ca. 65) mit seinem Auto auf und fragt mich „Hallo, wie geht’s?“. Er hat 33 Jahre in Deutschland gelebt, zuletzt in Nürnberg. Inzwischen lebt er wieder hier, findet das Land sehr schön, „die Politik aber beschissen“. Leider vergesse ich, ihn nach seiner Ansicht zur morgigen Wahl zu fragen. Bei ihm hat gerade ein deutsches Radfahrerpaar übernachtet, die seit vier Monaten unterwegs sind und ebenfalls zum Nationalpark Nemrut Dağı fahren wollen.

 

 

 

Nurhak

Letztendlich dauert in Nurhak doch alles länger als erwartet. Aber das stört mich nicht. Ich fühle zwar, dass ich ein Fremder bin, allein schon deswegen, weil ich sprachlich mit niemandem kommunizieren kann. Fürs Nötigste reicht es aber und ich merke von Anfang an, dass es mir hier ganz gut gefällt. Als ich etwa zwischen 8 und 9 Abend esse, sind auch hier hauptsächlich Männer unterwegs. Aber sie machen einen lockeren Eindruck. Und es gibt immer wieder junge Frauen, die zu zweit durch die Straße laufen. Viele der jungen Männer unter 20 sitzen zusammen bzw. fahren mit ihrem Motorrad durch die Gegend, um die Frauen zu beeindrucken. Und ebenso gibt es öfter Familien mit kleinen Kindern. Also ganz gemischt. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie hier wohl viele Aleviten sind. Dies erkenne ich an einem großen Plakat in einem Restaurant, auf dem der türkische Dichter Pir Sultan Abdal abgebildet ist, der von den Aleviten sehr verehrt wird. Die Aleviten machen zwischen 10 und 25% der Türken aus, werden aber in vieler Hinsicht diskriminiert, werden z.B. nicht als eigenständige Religion anerkannt und auch in mehrheitlich alevitischen Dörfern werden sunnitische Moscheen gebaut. Dass man trotzdem nicht völlig vom Staat eingenommen ist, merkt man daran, dass hier nicht überall staatliches Fernsehen läuft, sondern CNN Türk.

 

Entwicklung in der Türkei

Bei meiner zweiten Reise in die Türkei 2007 hatte ich das Gefühl, dass sich das Land vorwärts bewegt, vor allem politisch. Ich war schon durch Berichte, die ich in den letzten Jahren über die Entwicklungen in der Türkei gehört habe, bestürzt, jetzt bin ich es noch mehr. Vielleicht habe ich es bei meinem letzten Aufenthalt 2007 nicht wahrgenommen, aber jetzt fühle ich viel mehr Spannungen als damals. Die wirtschaftliche Situation hat sich oft verbessert, es gibt aber immer noch viele, die gerade so über die Runden kommen. Ich habe viele Türken kennen gelernt, die nicht sehr viel von der Regierung oder gar vom Präsidenten Erdoğan halten. Das geht mir ähnlich, er ist mir einfach unsympathisch, weil er zu viel Macht hat und diese auch recht negativ ausnutzt. Beispiele aus dem Alltag für eine kommende Diktatur zeichnen sich ab. So sollte man sich jeder Kritik an Staat, Religion – oder gar einen Austritt aus dem Islam – verweigern. Ansonsten kann man damit rechnen, gerichtliche Probleme, Hass-Mails zu erhalten, die Freiheit zu verlieren und keine Arbeit mehr zu finden. Viele Fälle von betroffenen Juristen, Polizisten und Journalisten, denen das passiert ist, belegen dies.

 

Zur morgigen Parlamentswahl

Morgen sind die entscheidenden Parlamentswahlen in der Türkei, dabei gilt die Zehnprozenthürde. Ich glaube, ich habe auch nicht viel mehr mitbekommen, als ihr daheim aus der Presse erfahren habt. Das liegt auch daran, dass ich mich mit den Leuten aus sprachlichen Gründen oft nicht verständigen kann. Aber so gut wie alle, die mir ein wenig sympathisch waren, haben mir klar gemacht, dass sie gegen ihren Präsidenten Erdoğan und seine Partei AKP sind. Wahlkampf ist hier anders als ich es gewohnt bin: In den letzten Wochen fuhren permanent kleine Busse durch die Straßen mit sehr lauter Musik. Zufällig war ich in Ankara bei zwei größeren Wahlveranstaltungen zweier total gegensätzlicher Parteien: Bei der rechtsextremen Partei MHP und bei der HDP, die für die Kurden, Frauen sowie Minderheiten jedweder Art steht. Und es gab, wie ich gelesen habe, Gewalt gegenüber allen Parteien, mehr als 90% davon gegen die HDP. In der kurdischen Metropole Diyarbakır gab es gerade einen Sprengstoffanschlag bei einer HDP-Veranstaltung, bei dem mindestens drei Menschen gestorben sind, viele wurden verletzt. 

Der Ausgang der Wahl wird auch meine Weiterreise bestimmen, bei der ich kurdische Gebiete vorgesehen habe. Sollte die HDP die Zehnprozenthürde nicht erreichen, kommt es dort vielleicht zu Aufständen.

Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 07 Sep 2016 19:35:08

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