Tag 036 - Geschehen am Gewerkschaftshaus vor einem Jahr
SA, 02.05.2015 – Geschehen am Gewerkschaftshaus vor einem Jahr
Odessa
Dass ich gestern recht früh ins Bett gegangen bin, hat nichts gebracht: Meine drei ukrainischen Mitbewohner kommen gegen 2 Uhr nachts zurück und gehen bis ca. 3:30 rein und raus, da sie sich noch in der Küche aufhalten. Das Licht lassen sie dabei freundlicherweise immer aus, aber wie man eine Tür annähernd leise zumachen kann, wissen sie nicht. Um kurz nach 7 sind alle kurz wach, um sich mit ihren Smartphones zu beschäftigen, um danach weiterzuschlafen. Geschlafen habe ich trotzdem gut, obwohl hier die Bettdecken – wie schon seit Rumänien – einfach zu kurz sind. Da ich mit meinen 1,75 Metern aber nicht schnurgerade im Bett liege, reicht es trotzdem aus.
Unterwegs in der Stadt
Die Suche nach den zwei Informationszentren für Touristen, die ich auf meiner Karte markiert habe, ist erfolglos, da kein einziges davon besteht. Weit und breit kein Anzeichen darauf. So frage ich einen jungen Mann, ob er sich hier auskenne. Gleich fragt er mich, ob ich auch Englisch spreche. Wir einigen uns aber auf die deutsche Sprache. Er, Andreas (30), ist ebenfalls oft mit dem Rad unterwegs, fährt heute Nacht zurück in seine Heimat Chemnitz. Mit dem Touristenzentrum kann er mir nicht weiterhelfen, dafür hat er aber eine Idee fürs Rad.
Am Bahnhof, den ich mir auch von innen anschaue, unterhalte ich mich kurz mit einem netten jungen ukrainischen Pärchen (ca. 25), das gerade eine Velotour startet. Ich sage es ihnen nicht, ihre Ausrüstung ist aber keineswegs wasserdicht. Ich hoffe für sie, dass in den nächsten Tagen nicht die Wolken aufbrechen. Weiter fahre ich zum Veloladen „Fortis bike“, den ich schon vorgestern aufgesucht habe. Ich schlage dem Chef Jaroslaw vor, man könne von dem Halter doch einfach alles Verbogene absägen und nur den Rest behalten. Das würde reichen. Er meint, ich solle wieder in 10 Minuten kommen. Ich gönne mir aber 30, um endlich mal was zu essen. Wieder zurück, meint er, er brauche 10 weitere Minuten, woraus aber eine gute halbe Stunden wird. In dieser Zeit hat er den Taschenhalter aber wieder richtig hingebogen bzw. zusammengeklebt. In der Zwischenzeit habe ich mich entschieden, mir einen neuen Sattel zuzulegen. Mein zweites Problem wegen dem vorgestrigen Unglück ist also ebenfalls gelöst. Wenn ich Glück habe, hält die neue Anfertigung durch bis zum Ende der Tour. Dann werde ich mir aber sicher neue Halterungen besorgen, immerhin sind diese ja schon etwa 18 Jahre alt.
2. Mai 2014
Heute früh war wohl eine Demonstration auf dem Kulikovo Pole vor dem Gewerkschaftshaus. Allerdings hatte von allen Leuten, die ich in diesen Tagen getroffen habe, niemand Ahnung von dem, was gerade in der Stadt abläuft bzw. ist nicht daran interessiert. Hintergrund: Prorussische Demonstranten hatten vor einem Jahr verlangt, ein Referendum nach dem Vorbild der Krim abzuhalten. Heute vor einem Jahr gab es Zusammenstöße zwischen diesen und proukrainischen Demonstranten. Prorussische Demonstranten verschanzten sich im Gewerkschaftshaus direkt beim Kulikovo Pole, ein paar Meter entfernt vom Bahnhof. Beide Seiten bewarfen sich mit Brandsätzen und Steinen, es wurde auch geschossen. Das Gewerkschaftshaus geriet schließlich an mehreren Stellen in Brand. Insgesamt starben 48 Personen, vor allem prorussische. Heute ist das Gelände gut abgeriegelt, überall ist Militär. Ich komme zwar durch eine Kontrolle durch, das Rad bleibt natürlich draußen. Vor dem Gewerkschaftshaus liegen viele Blumensträuße und man kann Gedenktafeln für die Verstorbenen sehen.
Mit meinen drei Mitbewohnern aus Kiew, Yuliya, Yula und Yevgeniy habe ich mich inzwischen angefreundet. So gehen wir aus in ein Restaurant, wo ich in den Genuss von „typisch“ ukrainischen Essen komme. Die eine oder andere Kleinigkeit mehr oder weniger, ein bisschen anders zubereitet, könnte man es aber auch als deutsch oder südamerikanisch, wo viele Zutaten herkommen, bezeichnen. Auf die Krim dürfen sie weiterhin gehen, wollen es aber nicht mehr, da sie jetzt von Russland okkupiert ist.