Tag 18 - Industrie, Brautkleider und weitere schrumpfende Städte
Tag 18 – MO, 16. Juli 2012: Industrie, Brautkleider und weitere schrumpfende Städte
(mit dem Zug ab Wuppertal) Düsseldorf – Duisburg – Walsum – Xanten
Nach zwei Übernachtungen verabschiede ich mich von Reto. Wo ich die letzten Nächte der Tour verbringen werde ist völlig unklar. Bisher waren die Strecken immer ziemlich voraussehbar und ich habe gewusst, wo etwa ich die nächsten Nächte verbringen werde. Ab jetzt gibt es aber verschiedene Wege für die Weiterfahrt ins Rhein-Maas-Delta.
Fahrt gegen den Regen
Mit dem Zug komme ich um 11 Uhr in Düsseldorf an, setze die Radtour fort und begebe mich direkt auf die Radstrecke am Rhein. Hier unternehme ich übrigens den ersten und letzten Versuch meiner Tour, mit einem Regenumhang zu fahren. Wütend lege ich ihn nach nicht mal fünf Minuten wieder ab, da mir der Wind von unten so stark hineinweht und ihn aufbläst, dass ich fast die Kontrolle über das Rad verliere. Also lasse ich mich lieber weiter betröpfeln, habe aber wenigstens mein Fahrrad im Griff.
Auch wenn ich – um es positiv auszudrücken – seit Tagen auf Sonnenschutzcreme verzichten kann, bin ich verdammt froh, wenn ich die Tour hinter mir habe. Durch den Regen sind mir sehr viele Sehenswürdigkeiten entgangen, wenigstens habe ich dafür umso mehr trockene Übernachtungsmöglichkeiten kennengelernt.
Duisburg-Marxloh
Um 16 Uhr komme ich in Duisburg-Marxloh an. Dieser Stadtteil ist durch Medienberichte bekannt als Musterbeispiel allseitiger Einbindung und Integration und ich bin froh, dass es Teil meiner Route ist. Bei der Erkundigung nach dem Weg dorthin werde ich scherzhaft gefragt, ob ich denn eine Schusswaffe bei mir hätte – zu meiner Sicherheit. Eine andere Person „informiert“ mich, dass in diesem Stadtteil 90% Türken wohnen würden. Das kann schlecht sein, wie ich später recherchiere. Denn dort leben „nur“ 60% mit Migrationshintergrund. Von denen mag der Großteil aus der Türkei stammen, aber sicher ist nicht der Großteil der Gesamtbevölkerung türkischstämmig. Mein „Informant“ hatte also keine Ahnung, aber eine große Klappe. Tatsächlich komme ich aber zu einem Zeitpunkt an, welcher wohl die Regenbogenpresse in ihren sensationslüsternen Reportagen bestätigen würde: in der Nacht vor meiner Durchfahrt sind in Marxloh zwei Menschen ums Leben gekommen. Allerdings nicht durch Mord, sondern durch einen Brand in einem Seniorenzentrum.
Überraschend lange bin ich auf der Suche nach einem Restaurant oder einem Imbiss – sehr seltsam für einen so türkisch geprägten Stadtteil. Einer der Gründe ist, dass viele, vor allem traditionelle Läden, dicht gemacht haben. Andere sind geschlossen, weil heute Montag ist. Obwohl ich die rechten und linken Seitenstraßen zur Hauptstraße, der Weseler Straße, abfahre, werde ich nicht fündig. Was mir von Anfang an auffällt, sind die enorm vielen Geschäfte mit Hochzeitskleidern, weshalb die Straße als „die Hochzeitsmeile Deutschlands“ gilt. Schließlich finde ich doch ein Restaurant, ein mehr oder weniger italienisches. Von der Speisekarte ist vieles gestrichen, das Geld scheint hier hauptsächlich mit Bierverkauf gemacht zu werden. Und der Geruch hier drinnen erinnert mich eindeutig an meine Kontakte zu Obdachlosen und Verwahrlosten und bleibt auch eine Weile an meinen Klamotten kleben. Außer der Bedienung und ihren kleinen Kindern ist hier niemand unter 40. Schade finde ich es für die Kleinen, die hier drinnen spielen und aufwachsen. Das Essen ist aber gut, wenn es auch nur aufgewärmt wurde.
Weitere Fahrt durch sterbende Städte und Dörfer
Danach geht die Fahrt weiter durch Nieselregen und es wird deutlich flacher – hier sind weit und breit keine Berge, Täler und schon gar keine Alpen zu sehen. Mit der Rheinfähre komme ich mich von Walsum ins linksrheinische Orsoy.
Unterwegs versuche ich immer wieder, Kontakt mit Bewohnern aufzunehmen: So frage ich eine etwa gleichaltrige Frau, ob sie etwas über den weiteren Verlauf des Wetters wisse. „Ich bin doch kein Frosch.“ ist ihre knappe aber freundliche Antwort. Eigentlich in Ordnung. Bei solchen Kontakten vermisse ich – jedenfalls bei solchem Regenwetter – Anschlusssätze wie „aber komm doch mit, ich lad dich auf einen warmen Tee ein“ oder wenigstens „wo kommst du eigentlich her?“.
Übernachtung vor der römischen Stadtmauer
Um 19 Uhr erreiche ich die über 2000 jährige Stadt Xanten, die ich bisher nur aus dem Lateinunterricht kenne. Dort stelle ich mich gleich unter einen Dachvorsprung, um mich vor dem Regen zu schützen und über die nächsten Schritte nachzudenken.
Dabei komme in Kontakt mit einer Frau, die offensichtlich auf jemanden wartet. Endlich wieder ein Gespräch, das länger als zehn Sekunden dauert. So erzähle ich von meiner Tour und sage, dass ich noch nicht weiß, wo ich bei dem Regenwetter schlafen werde. „Im Notfall“, sage ich ihr, „suche ich halt wieder einen überdachten Ort – egal, ob Restaurant, Schloss, Sportplatz oder Friedhof“. Ihre Reaktion „Du bist ja hart im Nehmen!“ hilft mir da nicht gerade weiter. Kurz darauf kommt ihr Mann und holt sie ab.
Weiterfahren will ich nicht mehr, ich habe einfach keine Lust mehr. Ich bin von der heutigen Fahrt ziemlich durchnässt und es ist zudem kühler geworden. Eine Radtour im Sommer habe ich mir um einiges trockener, wärmer und angenehmer vorgestellt. Es bleibt mir also nichts Anderes übrig, als mich bei der Römischen Siedlung, über die ich mich noch gar nicht informiert habe, zu erkundigen. Vielleicht finde ich ja dort eine Schlafmöglichkeit. Denn die letzten Tage der Reise will ich nicht noch anfangen, für meine Schlafplätze zu bezahlen.
Das Gelände der Römischen Siedlung („Archäologischer Park Xanten“) liegt etwas außerhalb der Stadt und ist von einer Mauer umgeben. Da mir keine andere mir vernünftig erscheinende Möglichkeit bleibt, richte ich mich am Kartenladen direkt vor einem der Tore der Stadtmauer, dem Molentor, ein. Die leichte Überdachung gibt mir die Möglichkeit, es mir einigermaßen gemütlich zu machen, meine durchnässten Kleider und Schuhe zum Trocknen aufzuhängen und Notizen zu den letzten Tagen zu machen. Nebenbei kann ich noch dem Fahrer eines edlen Autos und dessen Begleitern – einer davon ist ein orthodoxer Pfarrer – mitteilen, dass das Gelände schon geschlossen ist und dass es morgen früh ab 9 Uhr wieder geöffnet sein wird.
Die Nacht ist wieder sehr frisch und ich muss mein zweckdienlichstes Sporthemd, das inzwischen feucht ist, durch meine eigene Körperwärme trocknen. Dass es schon kurz bevor ich mich hinlege anfängt zu tröpfeln hat wenigstens den Vorteil, dass ich mich regengeschützt positionieren kann. Auf der dritten Seite um den rechteckigen Laden finde ich endlich einen Platz, der zum Großteil regengeschützt ist und an dem ich eine recht angenehme Nacht verbringe.
Tipps für andere Reisende:
- Duisburg-Marxloh: ThyssenKrupp-Stahlwerk Schwelgern, eines der größten Stahlwerke Deutschlands
- Duisburg-Marxloh: die DITIB-Merkez-Moschee, ein der größten Deutschlands, befindet sich hier. Leider habe ich davon erst nach meiner Fahrt erfahren und sie beim Abklappern der Straßen auf der Suche nach einem Imbiss nur knapp verpasst. Ein Hinweisschild auf diese Attraktion habe ich nirgends gesehen.