Tag 62 – Suche nach Video-Oskar und Wiedersehen mit Bülent

FR, 1. Juni 2007 – Suche nach Video-Oskar und Wiedersehen mit Bülent

Diyarbakır – Batman – Hasankeyf

Gleich am Morgen gehe ich nach Diyarbakır (kurdisch: Amed), lasse mein Gepäck am außerhalb der Stadt gelegenen Busbahnhof.
Wieso gehe ich noch mal nach Diyarbakır, wenn ich doch schon vor 4 Jahren hier war? Die Stadtmauer, eine der größten und besterhaltenen Befestigungsanlagen der Welt, hat mich begeistert (und ich habe damals leider keine Fotos gemacht). Die Anlage wurde 349 gebaut, ist etwa 5 km lang, 10-12 m hoch und 3-5 m dick. Neben 82 Türmen gibt es 4 Haupttürme in alle Himmelsrichtungen.

Zur Stadt: Sie liegt am Tigris und wurde in ihrer 5.000jährigen Geschichte von 26 Zivilisationen geprägt, hat heute über 600.000 Einwohner. Die Stadt ist zudem bekannt fürs jährlich stattfindende Wassermelonenfestival. Allerdings sollte mein Aufenthalt, genau wie damals, wieder nur von kurzer Dauer sein.

In der Stadt angekommen, spreche ich zwei Mädchen an, um mich nach einigen Sehenswürdigkeiten und einem interessanten Weg zu erkundigen. Eine der beiden hat lange in Köln gewohnt und gibt mir einige Tipps.
Ihren Ratschlägen folgend, gehe ich durch die Altstadt über die Grosse Moschee und zig verwinkelte Gassen zur Mutter-Gottes-Kirche (Meryem Ana Kilisesi). Diese ist eine der ältesten Kirchen überhaupt und soll aus dem 2. Jahrhundert stammen. Laut Pfarrer hat die Gemeinde nur noch etwa 50 Mitglieder, der Rest ist ausgewandert nach Istanbul, Europa oder Amerika. Die auf Steintafeln noch erkennbare Kirchensprache war alt-syrisch (de.wikipedia.org/wiki/Syrisch).
Leider ist es aufgrund eines Verbotes nicht möglich, vom Kircheninneren Fotos zu machen. Mir ist klar, dass der Pfarrer durch die Vorkommnisse der letzten Jahrzehnte Angst hat um eine der letzten „Festungen“ seiner Religion. Übertrieben halte ich sein Verhalten dennoch: So macht er nach jedem eingetretenen Besucher die Türe nicht nur zu, sondern schließt sie sogar ab und wartet geduldig darauf, bis sein kleiner Sohn ihm den Schlüssel nach einigen Minuten zuwirft.
Die bei Wikipedia erwähnte aus dem 15.Jh. stammende Theodor-Kirche, die von den wenigen noch verbliebenen aramäischen Christen genutzt wird, kennt niemand. Schade.

Die geplante Rückfahrt um 12 Uhr zum Busbahnhof verpasse ich, da der Fahrer des Stadtbusses doch nicht dahin fährt, wo ich hin will. Also erkundige ich mich im Kulturbüro doch noch nach dem Kulturfestival Diyarbakır (www.haber7.com). Doch die wissen hier von nichts. Schließlich leitet mich ein junger Mann mit einem weitern Bus weiter, um Informationen darüber zu erhalten. Jedenfalls meint er, ein Plakat dazu an einer Bushaltestelle sei ausreichend. Ist es aber nicht. Anstatt noch mal ein paar Runden durch die Stadt zu fahren, um mal eine richtige Information zu erhalten, mache ich mich doch lieber auf den Weg zum Busbahnhof. Dort erfahre ich, dass der Bus zu meiner nächsten Station, nach Batman, nur einmal täglich fährt. Das hat gerade noch gefehlt! Also doch wieder zurück in die Stadt und auf einen Minibus warten, der dorthin fährt.

 

Grosse Moschee, Diyarbakýr
Grosse Moschee, Diyarbakır
Mutter-Gottes-Kirche, Diyarbakýr
Mutter-Gottes-Kirche, Diyarbakır
Kinder in der Gasse
Kinder in der Gasse
Stadtmauer Diyarbakýr I
Stadtmauer Diyarbakır I
Stadtmauer Diyarbakýr II
Stadtmauer Diyarbakır II
7. Diyarbakir Kultur Festival
7. Diyarbakır Kultur Festival
   

 

Nach einer guten Stunde Fahrt in Batman angekommen, muss ich mich wieder auf die Suche machen: Nicht nach dem nächsten Bus, sondern nach Oskar bzw. seinem Videogeschäft: Als ich vor vier Jahren per Anhalter und mit dem Bus auf dem Weg nach Syrien war, haben er und sein Chef mir sehr geholfen. Die Übernachtung bei Oskar, seiner Frau, Kindern und Mutter war auch sehr nett. Wir haben uns nur über mein kleines Wörterbuch unterhalten, was aber wunderbar funktioniert hat und amüsant war. Ein Wiedersehen mit ihm wäre für mich einer der persönlichen Höhepunkte der Reise…


Eine Beschreibung der Suchaktion nach Oskar erspare ich mir, denn sie läuft ab wie jede andere: Dutzende freundliche Menschen, die einen aber nur zum Verzweifeln bringen. Auch meine Zeichnungen und einige türkische Vokabeln helfen nicht weiter. Ich entschließe mich zum Praktischsten aller Hilfsmittel: ich leihe mir ein Fahrrad aus. Und - nach einer Viertelstunde habe ich auch die Strasse gefunden, in der ich Oskar vermute. Der Friseurladen und der große Cafegarten sind noch da, das Videogeschäft fehlt aber. Ebenso scheinen alle anderen Elektronik- und Kleidergeschäfte in der Strasse neu zu sein. Anscheinend haben die großen Firmen in einem Schwung die kleinen Geschäftsleute vertrieben. Ich erkundige mich trotzdem in den Läden – von den Angestellten weiß keiner was von einem Videoladen, der hier vor vier Jahren mal gestanden hat, von einem Oskar schon gar nichts. Schade. Ich fahre zurück, gebe das Rad wieder ab und steige in den Bus nach Hasankeyf.
Einen Versuch war es aber wert, den besten Menschen der damaligen Reise wieder zu treffen.

 

Batman I
Batman I
Batman II
Batman II
Batman III mit Orhan, meinem Fahrradverleiher
Batman III mit Orhan, meinem Fahrradverleiher
 

 

Weiter geht es auf der Reise in bereits bekannte, liebenswerte Orte: Nach Hasankeyf. Wo ich übernachten werde, ist mir schon seit Beginn der Reise klar: direkt am Tigris, so wie vor vier Jahren. Also gehe ich nach einer Stunde Busfahrt gemütlich durch Hasankeyf und begebe mich hinunter zum Fluss, wo es einige offene Restaurants gibt. Trotz aller Freude, wieder hier zu sein, kann ich nicht übersehen, dass der Fluss schon ein bisschen an Höhe gewonnen hat: Dort, wo ich beim letzten Urlaub gegessen und geschlafen habe, ist jetzt nur noch Wasser zu sehen.


Es ist keine Viertelstunde vergangen, da taucht aus dem Dunkel eine Gestalt auf: Es ist Bülent, wir erkennen uns sofort und umarmen uns. Eine überraschende und doch sehr spezielles Wiedersehen in dieser Unsicherheit und “Endzeitstimmung” vor Ort. Meine heutige Übernachtung ist ja vielleicht die letzte hier überhaupt mögliche.

Um das verständlich zu machen, einige Hintergründe:
Das Südostanatolien-Projekt ist das größte regionale Entwicklungsprojekt der Türkei. Entlang der beiden Flüsse Euphrat und Tigris soll das Land wirtschaftlich erschlossen werden durch Staudämme, Wasserkraftwerke und Bewässerungsanlagen. (de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdostanatolien-Projekt)

Teil des ganzen Projektes ist der Ilısu-Staudamm, mit dessen Bau 2006 begonnen wurde. Die bisherige Erfahrung, z.B. mit dem ökonomischen und ökologischen Desaster des Atatürk-Staudammes kann die türkische Regierung kaum von der Durchführung des Projektes abhalten. Argumentiert wird mit alternativer Stromgewinnung, neuen Arbeitsplätzen und Tourismus. Nicht genauer eingegangen wird aber auf die Umsiedlung von 11.000 Menschen, die Versenkung der uralten Felsenstadt Hasankeyf im Stausee, drohende Wasserkonflikte mit den Anrainerstaaten Syrien und Irak, ganz zu schweigen von einem möglichen Konfliktpotential mit der PKK. Entscheidend bei der Weiterführung des Baus ist aber nicht die Türkei: Die Planer des Staudamms sind nämlich Firmen aus Deutschland (Firma Züblin; Hermes-Bürgschaften), Österreich (Firma VA-Tech) und der Schweiz. Und diese wiederum benötigen Kreditbürgschaften von ihren Regierungen, um die Finanzierung des Projektes sicherzustellen. (de.wikipedia.org/wiki/Ilisu-Staudamm; Süddeutsche Zeitung 24./25.03.2007, S.10; s. de.wikipedia.org/wiki/Hasankeyf)

Der alten Felsenstadt am Tigris, die seit über 10.000 Jahren kultureller Schauplatz war, droht also der Untergang. Für die Kurden hat dieser geschichtsträchtige Ort den Status eines nationalen Erbes. Neben einer Brücke im Fluss kann man im alten Hasankeyf auf dem Berg Paläste, Moscheen und Felsenwohnungen sehen. Neben den paar o.g. Vorteilen drohen also negative Auswirkungen in den Bereichen Ökologie, Politik, Sicherheit, Kultur und Soziales. Laut Europaparlamentariern verschiedenster Fraktionen verletze das Projekt “offenkundig EU- und internationale Standards”.
Vor ein paar Tagen war übrigens auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir hier. Er protestiert in einem offenen Brief und in einer Grußbotschaft gegen den Bau des Ilisu-Staudamms (www.cem-ozdemir.net).

In Hasankeyf verbinden sich für mich also viele Reisegründe: Das Wiedersehen mit netten Menschen an einem wunderschönen Ort, Archäologie, Soziale Arbeit, Politik und Umwelt.

Als ich abends mit Bülent und einigen Freunden zusammensitze, geht der kurdische, arabische und türkische Sprachgebrauch nahtlos ineinander über. Da hier alle mehrsprachig aufgewachsen sind, ist das auch überhaupt kein Problem. Bis auf mich natürlich, der keine einzige der drei Sprachen beherrscht. Hier geht es sprachlich also noch gemischter zu als in Antakya.
Mein „Bett“ hier ist eines der gemütlichsten, das ich mir vorstellen kann: Direkt neben dem Tigris, die alte Brücke nebendran, hinter mir das wunderschöne Fels-/Höhlenrestaurant!

 

Hasankeyf I
Hasankeyf I
Hasankeyf II
Hasankeyf II
Restaurant I
Restaurant I
Restaurant II
Restaurant II
Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 15 Feb 2016 07:36:58

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