Tag 55 - Über die Gastfreundschaft
FR, 25.Mai 2007 - Über die Gastfreundschaft
Antakya
Die morgendliche Arbeit mit Sedat geht weiter. Er ist Moslem und arbeitet hier schon seit langer Zeit mit. Außerdem ist Sevi für einen Monat hier, die in Wien Soziologie studiert. Ansonsten ist Melek den ganzen Morgen über und abends da - sie ist hier für Küche, Gesang und gute Stimmung zuständig.
Gassen von Antakia I |
Gassen von Antakia II |
Mit Sedat und Sevi im Begegnungszentrum |
Mit Sedat |
Beim Abendessen unterhalte ich mich mit Barbara über die Gastfreundschaft in der Türkei. Da sie hier vor 30 Jahren selbst unterwegs war und seitdem hier wohnt, kann sie gut verstehen, dass es mir manchmal zu viel wird, permanent Tee angeboten zu bekommen, massenhaft (unnötige) Tipps zu erhalten und von (interessierten) Leuten umzingelt zu sein. Die Menschen hier meinen es aber wirklich gut. Nur sind Mitteleuropäer eben anders geeicht. Die meisten von uns brauchen eben mal eine gewisse Zeit, in der man allein ist, ungestört in Gedanken schweifen kann, Ideen sammeln und notieren, Pläne schmieden, ausruhen, beten oder einfach schlafen kann.
Zur Gastfreundschaft hier: die hatte in dieser Region schon immer einen sehr hohen Stellenwert. Denn hier waren schon seit biblischen Zeiten Pilger, Reisende und Händler unterwegs, die z.T. der Wüste oder anderen menschenfeindlichen Landschaften ausgesetzt waren; ihnen zu helfen war und ist da selbstverständlich. Zudem herrscht ein großes Interesse an dem Reisenden - wo er herkommt, was er macht, wo er hin will, was er vorhat, welches sein Lieblingsverein ist, ob er verheiratet ist...
Dazu kommt: Die Türken wie auch die Araber können es anscheinend nicht aushalten, allein zu sein. Andersrum sind in ihren Augen Menschen, die auch nur einen kurzen Moment allein sind, einsam und traurig. Deswegen auch die permanente Menschenansammlung um einen herum. Es ist also wirklich gut gemeint. Dass aber ein Mitteleuropäer oder Deutscher mal seine Zeit für sich braucht, können sie selten verstehen, es widerspricht anscheinend ihrer Natur.
Zur Sprache: Einerseits bereue ich es, vor der Abfahrt nicht genügend beim von der FH angebotenen Türkischkurs mitgemacht zu haben, da es doch schön ist, wenn man sprachlich ein bisschen aktiv sein kann. Andererseits werde ich z.T. so schon genug auf türkisch angequatscht – auch, wenn ich es offensichtlich nicht beherrsche. Wenigstens sind viele lange Zeit damit beschäftigt, im Wörterbuch nachzuschlagen, was für mich eine kleine Ruhepause bedeutet.
Zur Gastfreundschaft in Deutschland: Wenn man sich - am Besten eher ländlichen Gebieten - als wandernd zu erkennen gibt, besteht ebenfalls eine hohe Gastfreundschaft. Oder man probiert es einfach mal als Tramper. Ohne die vielen positiven Erfahrungen als Anhalter würde ich heute wohl eher nicht diese Reise machen. Allerdings muss man in Deutschland - und in unseren Nachbarländern - auf die Menschen zugehen, von alleine kommen sie selten und bieten Hilfe an. Aber das Klischee, die Deutschen seien unfreundlich, Fremden gegenüber verschlossen, spießbürgerlich,... kann jede/r selbst widerlegen, wenn er/sie mal in Deutschland "wandert". Anfangen muss man aber bei sich selbst: Loslassen, Vertrauen schenken und die Ansprüche ein bisschen runterschrauben.